24. November 2022 Ohne Zivilgesellschaft wird die humanitäre Krise in Afghanistan nicht überwunden werden können
Es gilt das gesprochene Wort!
Liebe Gäste,
vor gut sieben Wochen habe ich einige von Ihnen schon einmal hier in Berlin getroffen. Seitdem habe ich oft an unseren Austausch zurückgedacht. Es war wirklich eindrucksvoll, mit welcher Stärke Sie die Situation in Afghanistan geschildert haben. Wie klar Sie Ihre Forderungen benannt haben und wie stark Sie als transnationale afghanische Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Und auch deswegen ist mir das heutige Treffen so wichtig. Ich möchte den G7-Vorsitz nutzen, um Vertreter*innen der afghanischen und internationalen Zivilgesellschaft, der afghanischen Diaspora mit Vertreter*innen aus den G7-Staaten und weiteren befreundeten Gebern, den Vereinten Nationen, der Weltbank sowie der EU zusammenzubringen.
Afghanistan hat einen langen Leidensweg hinter sich. Und mit der Machtübernahme der Taliban letztes Jahr ist nun erneut ein Krisenkapitel aufgeschlagen worden. Die Taliban unterdrücken die afghanische Bevölkerung, sie drangsalieren, foltern und töten. Besonders hart trifft es die Frauen und Mädchen. Ganze 70 Prozent der afghanischen Haushalte können aktuell ihre Grundbedarfe nicht decken. Sie kennen das ganze Ausmaß dieser dramatischen Situation vor Ort viel besser als ich.
Aber die Menschen in Afghanistan lassen sich nicht unterkriegen. In Bamiyan, Ghazni, Nangarhar und Panjshir haben Frauen gegen das Schulverbot protestiert, bis Taliban-Handlanger die Proteste durch Schläge und Schüsse aufgelöst haben. Unter dem Motto „Brot, Arbeit, Freiheit“ kämpfen die Frauen unermüdlich weiter: für ihre Grundrechte und für ein besseres und gerechteres Afghanistan.
Allen denjenigen, die in Afghanistan oder im Exil, diesen Kampf furchtlos unterstützen, möchte ich versichern: Wir, die Bundesregierung, sehen Sie. Wir sehen Ihren Mut. Wir sehen die Not der Menschen in Afghanistan. Wir vergessen sie nicht. Wir unterstützen Ihren legitimen, gewaltfreien Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Und wir tun unser Bestes, um die Grundversorgung der Bevölkerung aufrecht zu erhalten.
Die Taliban nehmen für sich in Anspruch, die Regierung zu stellen. Aber sie lassen die Bevölkerung im Stich und unternehmen nichts, um die humanitäre Notlage zu beenden. Stattdessen schränken sie die Rechte von Frauen und Mädchen, von Minderheiten und von Journalist*innen systematisch weiter ein.
Wir erkennen die Taliban nicht als legitime Regierung an. Da sie aber de facto die Macht über das Land übernommen haben, erwarten wir von ihnen, sich um die Bevölkerung in Afghanistan zu kümmern. Jedes einzelne Kind, das hungert, all die Personen, die keinen Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung haben oder tiefer und tiefer in die Armut rutschen sind ein Beweis für die fehlende Verantwortungsübernahme der Taliban.
Angesichts ihrer unrechtmäßigen Machtübernahme hat Deutschland am 15.8. letzten Jahres die bilaterale staatliche Zusammenarbeit mit Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt. Die Kriterien für eine mögliche Zusammenarbeit hat die EU bereits im September 2021 klar definiert: Es muss eine inklusive Regierung gebildet werden. Und die Menschenrechte, insbesondere die Rechte von Frauen und Mädchen müssen geschützt werden. Doch davon sind wir derzeit weit entfernt!
Auch wenn die Bundesregierung die staatliche Zusammenarbeit ausgesetzt hat, so unterstützen wir weiterhin die afghanischen Menschen. Wir vermeiden dabei die Zusammenarbeit mit den de-facto-Autoritäten. Wir arbeiten eng zusammen mit den VN. Ich freue mich, dass Herr Markus Potzel, der stellvertretende Sonderbeauftragte des VN-Generalsekretärs für Afghanistan, heute digital dabei ist. Ebenso eng kooperieren wir mit der Weltbank und der Zivilgesellschaft.
Gemeinsam können wir Wege finden, wie wir die Frauen und Männer in Afghanistan unterstützten können. Nichthandeln ist keine Option!
Der Schlüssel dafür ist die Zivilgesellschaft. Also Sie, als Vertreter*innen der afghanischen und internationalen Zivilgesellschaft. Unter ihnen sind Unternehmerinnen; Frauen, die in der Landwirtschaft arbeiten, um ihre Familien zu versorgen; und Frauen, die in Nichtregierungsorganisationen arbeiten oder sie leiten.
Sie alle leisten bereits aktiv Widerstand – und Unterstützung für die Menschen in Afghanistan. Afghanistan ist heterogen. So hören wir von vielen von Ihnen, dass die Menschen auf lokaler Ebene gegenüber den Taliban ihre Rechte einfordern. Deswegen möchten wir lokale Strukturen stärken, um dort, wo es möglich ist, die Räume für Frauen und Mädchen zu erweitern. Hier sind wir auf Ihr Wissen und ihre Expertise angewiesen.
Dank engagierter Menschen wie Ihnen konnte seit der Machtübernahme der Taliban eine noch größere humanitäre Katastrophe verhindert werden. Dabei ist mir, ist uns allen, schmerzhaft bewusst, welche Risiken sie eingehen und was für Opfer sie tagtäglich bringen müssen.
Mit der heutigen Veranstaltung wollen wir einen Raum zum Austausch ermöglichen. Und wir wollen mit Ihnen diskutieren: Wie können Deutschland, die G7, Vereinten Nationen und Entwicklungsbanken Sie am besten dabei unterstützen, den Afghan*innen zu helfen? Wie können wir gemeinsam verhindern, dass eine verlorene Generation heranwächst? Wie können wir gemeinsam dazu beitragen, die Räume für Frauen und Mädchen zu erweitern? Wie können wir lokale Initiativen und die afghanische Zivilgesellschaft stärken, ohne Sie als Verteidiger*innen von Menschenrechten zusätzlich zu gefährden? Wie können wir handlungsfähig bleiben – auch in Zeiten, in denen die politischen, aber auch die ganz wortwörtlichen Bewegungsräume für zivilgesellschaftliche Akteur*innen immer enger werden? Und vor allem: Wie können wir all das tun, ohne den Machtanspruch der Taliban zu verfestigen?
Dazu findet heute dieser Austausch statt. Denn um Antworten auf diese Fragen zu finden und uns auf gemeinsames Vorgehen zu verständigen, sind wir auf Ihr Wissen und Ihre Expertise angewiesen. Ich danke Ihnen daher, dass Sie alle heute hier sind.
Als internationale Partner*innen sollten wir ein gemeinsames Verständnis unseres Engagements haben. Die G7-Partner und die anderen gleichgesinnten Staaten stimmen sich eng ab, um die Rahmenbedingungen für unser Engagement gemeinsam zu definieren. So haben wir zum Beispiel gemeinsam entschieden, dass wir die Sekundarbildung erst dann wieder fördern können, wenn auch Mädchen wieder Zugang zu Sekundarschulen haben. Ich freue mich daher sehr, dass so viele enge Partner*innen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit heute vertreten sind.
Es ist wichtig, dass wir mit einer Stimme sprechen – damit die Botschaft unmissverständlich ankommt. Und die ist: Wir lassen die Menschen Afghanistans nicht allein!