4. Dezember 2024 Rede von Bundesministerin Svenja Schulze bei der BMZ-Konferenz „Rethinking development policy: How to confront coloniality“ in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Gäste,

der Zeitpunkt unserer heutigen Veranstaltung ist nicht zufällig gewählt – das hat uns Dipo Faloyin gerade eindrücklich aufgezeigt. Herzlichen Dank für Ihre starken Worte. Ich denke, die meisten hier im Raum kennen Ihr Buch, aber es von Ihnen selbst zu hören, macht einen deutlichen Unterschied – danke dafür.

Es ist mir persönlich und als deutsche Ministerin ein Anliegen, der Berliner „Afrika-Konferenz“ von 1884 zu gedenken. Und dabei vor allem ihre noch heute spürbaren Auswirkungen anzuerkennen.

Draußen liegt übrigens das Originaldokument, wenn Sie es selbst sehen wollen, es ist heute hier.

Die Vertreter der damaligen Kolonialmächte – es waren ausschließlich Männer – tagten nur rund 700 Meter von hier entfernt im Amtssitz des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck in der Wilhelmstraße. Bismarck hatte sie zu der Konferenz nach Berlin gebeten. Vertreter aus Afrika waren nicht eingeladen.

Diese Konferenz war ein abscheulicher Schlüsselmoment des Kolonialismus. Dort wurden die Regeln für die weitere Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter den Kolonialmächten festgelegt.

In den folgenden 20 Jahren gliederten sie 80 Prozent des afrikanischen Kontinents in Kolonialreiche und Protektorate ein. Die Kolonialherren zerschnitten dabei kulturelle, politische und wirtschaftliche Räume. Sie setzten koloniale Herrschaftsansprüche mit Waffengewalt durch. Ausbeutung und Unterdrückung standen auf der Tagesordnung. Die Menschen, die Autoritäten, die Kultur auf dem afrikanischen Kontinent – all das war den Kolonialherren völlig egal.

Die Konferenz von 1884 war und bleibt Ausdruck eines Überlegenheitsgefühls, das uns leider auch heute noch – 140 Jahre später – begegnet.

Insgesamt fünf Jahrhunderte europäischer Kolonialisierung haben auch auf anderen Kontinenten tiefe Spuren hinterlassen. Das, was diese Regionen und Kontinente vorher ausgemacht hat – die Kultur, die Regierungssysteme, die Bildungsinstitutionen, die Handelsstrukturen – all das wurde durch die Kolonisierung zunichte gemacht. Es wurde aus der Geschichtsschreibung gestrichen – nicht nur in Afrika. Deshalb geht es bei der heutigen Veranstaltung um die Zusammenarbeit mit allen Weltregionen.

Deutschland hat sich bis jetzt nicht angemessen mit der eigenen Verantwortung auseinandergesetzt.

Ein Anfang ist jedoch gemacht. Die Bundesregierung hat die Aufgabe im Koalitionsvertrag für diese Legislatur verankert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat im letzten Jahr eine viel beachtete Reise nach Tansania unternommen und dort um Verzeihung für deutsche Kolonialverbrechen gebeten. Und meine Vorgängerin im Entwicklungsministerium, Heidemarie Wieczorek-Zeul, hat 2004 in Namibia um Vergebung für die Gräueltaten der deutschen Kolonialmacht gebeten.

Es wird Zeit, dass wir uns auch als Gesellschaft dieser Vergangenheit stellen. Dass unsere Schulbücher diesen blinden Fleck unserer Geschichte endlich thematisieren. Dass wir uns bewusst machen, was das für die Menschen in den kolonisierten Ländern bis heute bedeutet und welche Schlüsse wir daraus in Deutschland ziehen sollten.

Dank einer aktiven Zivilgesellschaft und Diasporagruppen kommt Bewegung in diese Debatte. Es entsteht ein Bewusstsein dafür, dass unsere Denkmuster, unsere Wahrnehmungen noch immer kolonial geprägt sind. Und damit auch, dass es notwendig ist, diese unbewussten Vorurteile und Denkmuster zu verändern.

Nicht nur unsere Wahrnehmung und unser Denken gehen auf den europäischen Kolonialismus zurück. Das gilt auch für viele Ungleichheiten und Machtgefälle, die heute in der Welt sichtbar sind.

In der Weltwirtschaft fungieren noch immer viele Länder gerade in Afrika vorrangig als Rohstofflieferanten. Zwei Drittel der Exporte aus Afrika sind Metalle, Mineralien, Erdöl, Erdgas und unverarbeitete Agrarprodukte. Die Wertschöpfung findet aber – wie schon in kolonialen Zeiten – anderswo statt: 70 Prozent des Kakaos stammen aus Afrika, aber nur ein Prozent der Schokolade. Europas Schokoladenhersteller und Kaffeeröster erwirtschaften ein Vielfaches dessen, was diejenigen bekommen, die Kakao und Kaffee anpflanzen. Die Bauern können davon oft kaum leben und arbeiten häufig unter menschenunwürdigen Bedingungen. Bei Baumwolle oder Cashewnüssen ist es nicht anders, genauso wenig bei den Bodenschätzen.

Durch weniger Wertschöpfung vor Ort fehlen die Ressourcen, um in Bildung, in Infrastruktur oder in Gesundheitsversorgung zu investieren. Die Chancenungleichheit verstetigt sich so über Generationen immer weiter. Genauso wie die Abhängigkeiten.

Die Länder im Globalen Süden, die Regierungen, die Geschäftsleute, die Zivilgesellschaft – sie haben häufig von vorneherein schlechtere Voraussetzungen. Voraussetzungen, die eben auch auf koloniale Herrschaft und ihre Folgen zurückgehen. Diese weiter anhaltenden Folgen lassen sich als „Kolonialitäten“ zusammenfassen.

Sie betreffen auch die Entwicklungszusammenarbeit – also das Politikfeld, das globale Ungleichheit reduzieren und für mehr Chancengleichheit sorgen soll.

Denkmuster, Strukturen und Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit sind kolonial geprägt – häufig ohne dass uns das bewusst ist.

Nehmen viele in Deutschland nicht oft ganz selbstverständlich an, dass unsere Institutionen, unsere Technologien, unsere Lebensweise anderen überlegen seien? Dass andere Länder Defizite hätten – und wir in Deutschland Strategien dagegen? Dass wir die Expertise besäßen – und nicht etwa Expertinnen und Experten aus dem Globalen Süden selbst?

Wie bewusst gehen wir mit unserem Verständnis von Entwicklung um, das primär an einem westlich definierten Wachstum und Weiterkommen ausgerichtet ist? Das also auf Maßstäben beruht, die vor allem von ehemaligen Kolonialmächten gesetzt wurden?

Um eine systematische Auseinandersetzung mit solchen und ähnlichen Fragen anzustoßen, haben wir im Entwicklungsministerium im letzten Jahr einen Prozess initiiert. Dabei geht es um einen selbstkritischen und ehrlichen Blick auf die Rolle des Entwicklungsministeriums.

Wir stellen uns die Frage, wie partnerschaftliche Zusammenarbeit bei ungleichen Voraussetzungen der Partner gestaltet werden kann. Welche eingeübten Arbeitspraxen möglicherweise problematisch sind, weil sie Asymmetrien verstärken, statt sie abzubauen. Oder Abhängigkeit schaffen, statt sie zu überwinden.

Ich möchte drei konkrete Beispiele nennen, wie sich dieser Prozess bereits auf die Arbeit des Ministeriums auswirkt:

Erstens stärkt das BMZ die Partnerorientierung.

Viele von Ihnen kennen das für die internationale Zusammenarbeit zentrale Format der Regierungsverhandlungen. Darin vereinbaren die Ministerien der Partnerländer mit dem deutschen Entwicklungsministerium in regelmäßigen Abständen den Umfang und die Art der Zusammenarbeit. Das heißt, Deutschland sagt Mittel für gemeinsam vereinbarte Schwerpunkte und Maßnahmen zu.

Angesichts der Tatsache, dass eine Macht-Asymmetrie besteht, wenn die eine Seite der anderen finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, ist klar, dass wir die Verhandlungspraxis verändern müssen. Um hier mehr Ausgewogenheit zu ermöglichen, sind ein früher Austausch von Verhandlungspositionen und stärkeres gegenseitiges Einbinden in Planungsprozesse wichtig. Denn nur wenn die Interessen beider Seiten frühzeitig und klar benannt werden, kann Kooperation wirklich partnerschaftlich gestaltet werden.

Zur Partnerorientierung gehört auch, nicht nur auf Expertinnen und Experten aus dem Globalen Norden zurückzugreifen, sondern auch das wichtige lokale Wissen künftig stärker zu nutzen. Denn die Kritik stimmt: Lokales Wissen hat immer noch keinen angemessenen Stellenwert in der Wissenschaft. Die lokalen Perspektiven fehlen deshalb häufig in wissenschaftlichen Publikationen und Empfehlungen. Und fließen damit auch zu wenig in die Planung und Umsetzung von Entwicklungspolitik ein. Als Ministerium werden wir lokale Expertise auf allen Ebenen stärker nutzen.

Zweitens setzt sich das BMZ verstärkt dafür ein, asymmetrische Machtstrukturen im internationalen System abzubauen.

Zum Beispiel mit Blick auf die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Länder des Globalen Südens in internationalen Finanzinstitutionen. Bei dem neuen Fonds zum Umgang mit klimabedingten Schäden und Verlusten hat sich das BMZ zum Beispiel erfolgreich dafür engagiert, dass die Mehrheit bei Ländern des Globalen Südens liegt. Und im Oktober haben wir mit Vertreterinnen und Vertretern aus Sub-Sahara-Afrika, der MENA-Region und Lateinamerika diskutiert, wie die Steuerung der Weltbank gerechter gestaltet werden kann. Dabei wird es darauf ankommen, Einfluss und Mitsprache der kreditnehmenden Länder in der Steuerung der Weltbank zu stärken. Und die günstigen Kreditkonditionen für genau diese Länder zu erhalten. Dafür bringe ich mich als Gouverneurin der Weltbank ein.

Das dritte Beispiel setzt hier bei uns selbst an, bei den Kolleginnen und Kollegen hier im BMZ. Auf sie kommt es an, um koloniale Denk- und Handlungsweisen im Ministerium zu verändern und eine wirklich partnerschaftliche Zusammenarbeit zu verankern. Denn sie sind es, die die deutsche Entwicklungspolitik im Austausch mit Partnern und Akteuren mitgestalten.

Deshalb haben wir im BMZ Fortbildungsformate zu unbewussten Vorurteilen und Diversität aufgelegt. Hier können und müssen wir alle stetig dazulernen! Diese ersten Schritte werden weiter vertieft. Die Auseinandersetzung mit kolonialen Kontinuitäten werden auch in das Onboarding der neuen Mitarbeitenden integriert, in die Fortbildung von Führungskräften und in die Auslandsvorbereitung für die Kolleginnen und Kollegen, die an Botschaften in Partnerländern arbeiten.

Meine Damen und Herren,

das BMZ hat sich also auf den Weg gemacht. Dabei erhalten wir auch Unterstützung durch ein externes Beratungsteam mit international vernetzten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Organisationsberatung. Sie sind heute ebenfalls hier, und ich begrüße sie herzlich.

Diese externe, manchmal auch für das Selbstbild des Ministeriums herausfordernde Perspektive, ist unbedingt notwendig. Um zu erkennen, wo die größten Handlungsbedarfe sind, und wie sie angegangen werden können. Dafür suchen wir den Dialog mit unseren Partnerinnen und Partnern – mit Ihnen.

Ich verstehe das BMZ als lernende Institution, die in einem engen Austausch mit Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft stehen will. Dabei ist klar, dass der Dialog mit jedem Partner, mit jedem Land anders ausfällt – und das ist gut so.

Natürlich sind bei alledem die staatlichen Organisationen GIZ und KfW eng eingebunden – sie sind es, die die konkreten Projekte gemeinsam mit unseren Partnern umsetzen.

Meine Damen und Herren,

als Deutsche, als Europäerinnen und Europäer, haben wir die Aufgabe, uns zu den Fehlern der Vergangenheit zu bekennen – das steht vollkommen außer Frage.

Gleichzeitig sollten alle Beteiligten von den alten Rollen Abschied nehmen, die einen konstruktiven Dialog erschweren. Sei es die Neigung, aus Schuld- oder Überlegenheitsgefühlen heraus Ratschläge zu erteilen. Oder die Neigung, die Ursache aller Fehlentwicklungen in der Kolonialherrschaft zu suchen.

Es braucht auf allen Seiten offene, freimütige Dialoge, die ehrliche Benennung von Interessen – im Verständnis einer Partnerschaft zum Wohle beider Seiten.

Ich bin guten Mutes, weil dieser Dialog im Gange ist. Weil wir ihn weiter gestalten wollen. Und das werden wir gleich noch vertieft miteinander diskutieren.

Sicher ist: Für die Auseinandersetzung mit Kolonialitäten ist ein langer Atem notwendig.

Auch das Beratungsteam sagt, dass das BMZ diese Auseinandersetzung strukturell – quasi in der DNA der Institution – verankern sollte. Das bedeutet, dass auch das Denken in Legislaturperioden hier nicht weiterhilft. Diese Legislaturperiode wird kürzer sein als gedacht. Deutschland steuert auf Neuwahlen am 23. Februar zu.

Deshalb ist die heutige Veranstaltung umso wichtiger: Sie ist ein Auftakt. Und sie ist auch ein Auftrag an alle Beteiligten, diesen so wichtigen Prozess weiter voranzutreiben. In dem Verständnis, dass nur durch mehr Dialog auch mehr Transparenz entsteht, mehr gegenseitiges Verstehen und damit auch Vertrauen.

Manche von Ihnen führen die Debatte zum Umgang mit kolonialen Kontinuitäten teilweise schon sehr viel länger als das BMZ und sagen vielleicht: „Das reicht doch alles nicht.“ Ich sage Ihnen: Wir nehmen diese Kritik ernst, und setzen uns mit ihr auseinander.

In den Gesprächen, die ich mit vielen verschiedenen Menschen, insbesondere in den Partnerländern, führe, sehe ich: Sie haben oft sehr klaren Vorstellungen davon, was sie von einer Zusammenarbeit erwarten.

Lassen sie uns mit einer solchen Klarheit und Offenheit in den Dialog gehen – um koloniale Kontinuitäten abzubauen und eine internationale Zusammenarbeit zu formulieren, die sich an gegenseitigen Verpflichtungen und gemeinsamen Interessen orientiert. Eine Kooperation, aus der beide Partner gestärkt hervorgehen.

Meine Damen und Herren, es gibt viel zu tun.

Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen und Ihre Beiträge.