17. Oktober Was hält uns zusammen? Entwicklungs- und friedenspolitische Antworten im Zeichen der „Zeitenwende“
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren,
der 24. Februar 2022 stellt durch Putins Angriff auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ dar. Olaf Scholz hat in seiner Regierungserklärung bereits wenige Tage danach deutlich gemacht, dass der russische Angriff eine Zäsur ist. Mit weitreichenden Folgen, in erster Linie für die Menschen in der Ukraine, aber auch für jeden Einzelnen und jede Einzelne von uns, für die Weltgemeinschaft insgesamt und natürlich auch für die internationale Zusammenarbeit. Und lassen Sie mich noch hinzufügen: Es gibt einen Mann, der das sofort beenden kann. Das Sterben von Soldaten – ukrainischen wie russischen, das Töten von Zivilisten, sogar Kindern, am Wochenende die widerliche Exekution des Dirigenten Kerpatenko in Cherson, weil er nicht die Musik der Besatzer spielen wollte. Dieser Mann heißt Putin. Er hat es allein in der Hand – und zwar ohne die absurde Vorstellung, dass man darüber mit einem solchen Verbrecher erst verhandeln muss.
Es ist mit dem Kriegsbeginn etwas Grundsätzliches in Bewegung geraten in unserer Welt, viele Dinge sind nun anders als zuvor. Eines der prägnantesten Beispiele ist das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Wer hätte sich zum Start der Ampel-Koalition vorstellen können, dass sie Militärausgaben in dieser Größenordnung umsetzt. Aber es ist natürlich richtig: Die Unverletzlichkeit der Grenzen braucht militärischen Schutz. Wir brauchen eine größere Wehrhaftigkeit, um Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu verteidigen.
Militärisches Handeln ist notwendig – aber es muss allen klar sein: Das alleine führt uns nicht in eine friedliche Welt. Mehr noch: Es darf nicht das erste Mittel der Wahl sein. Das Militärische ist letztlich eine Notwendigkeit, die sich aus einem Versagen der Welt im Zivilen ergibt. Neben schweren Waffen braucht es deshalb die Stärkung nicht-militärischer Wege zur Konfliktbewältigung und vor allem für Konfliktprävention.
Und deswegen brauchen wir eine starke Entwicklungspolitik, die Ungleichheit, Hunger, Armut als Treiber von Konflikten bekämpft. Die Bildung, Gesundheit, zivilgesellschaftliche Kräfte und Demokratieentwicklung stärkt. Die umsetzt, was wir uns als Weltgemeinschaft 2015 mit der Agenda 2030 versprochen haben: Niemanden zurückzulassen. Deswegen bin ich vorangegangen bei der Gründung der Allianz für globale Ernährungssicherheit und deswegen gehe ich auch jetzt wieder voran bei der Initiative für soziale Sicherheit. Diese Solidarität, das Zusammenwirken für eine friedliche, widerstandsfähige, gerechte Welt ist es, was wir brauchen. Und deshalb setzt die Bundesregierung auf einen neuen integrierten Ansatz in der Sicherheitspolitik, der ressortübergreifend nach innen wie nach außen gerichtet ist.
Für die Entwicklungspolitik sehe ich dabei drei zentrale Säulen: Die Entwicklungspolitik als Krisenprävention, Entwicklungspolitik als wertegeleitete Interessenpolitik und Entwicklungspolitik als Vertrauensbildung.
Christa Wolf fragt in ihrer 1983 erschienenen Erzählung „Kassandra“: „Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg?“ Als Entwicklungsministerin frage ich mich, wie unsere Welt ausgestaltet sein muss, damit sicherheitspolitische Krisen gar nicht erst entstehen. Sicherheit ist mehr als reine Gefahrenabwehr. Und Entwicklungspolitik ist „nachhaltige Sicherheitspolitik“. Sie legt den Schwerpunkt auf Prävention, bildet Strukturen aus und beugt damit Konflikten vor. Partnerorientiert und vertrauensbildend. Dabei ist klar, Prävention kann natürlich nicht jeden Krieg verhindern – wie wir erbarmungslos mit Putins Krieg aktuell vor Augen geführt bekommen. Und doch beugt Prävention Konflikten vor.
Sicherheitspolitik ist für mich eben mehr als der wichtige und notwendige Schutz unseres Landes. Ich setze mich für einen breiten Sicherheitsbegriff ein, der die menschliche Sicherheit in allen Dimensionen umfasst. Denn ein Leben in Freiheit und Würde wird heute weltweit bedroht und verhindert. Durch Gewaltkonflikte, durch den Klimawandel, durch Ernährungskrisen, durch Armut und Ungleichheit, durch Unterdrückung und Autokratie. Wir brauchen Dialog, Kooperation und eine multilaterale Ordnung, die auf dem Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 beruht: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, und zwar nicht nur hier in Deutschland, sondern weltweit.
Ich setze daher auf Prävention. Frieden und Sicherheit müssen frühzeitig abgesichert werden. Das heißt, Entwicklungspolitik wird vorausschauend tätig. Prävention ist wirksamer und auch weitaus günstiger als kurzfristige Intervention bei schon bestehenden Krisen. Prävention heißt aber auch: heute investieren, um so den Frieden von morgen zu sichern.
Entwicklungspolitik wirkt präventiv, indem sie die Ursachen von Konflikten angeht, sich im Wiederaufbau und für die Gestaltung von Nachkriegsprozessen engagiert, indem sie Armut und Ungleichheit bekämpft und Veränderungsprozesse begleitet. Das alles führt dazu, dass zahlreichen Konflikten vorgebeugt wird. Doch spätestens seit der Corona-Pandemie wissen wir, „there is no glory in prevention“ wie es Christian Drosten einmal ausgedrückt hat. Wir können die Zahl der vorgebeugten Konflikte und Krisen nicht benennen, es kann dazu keine Statistik geben. Und trotzdem bin ich davon überzeugt: Prävention ist der einzig richtige Weg zu dauerhaftem Frieden.
Verehrte Damen und Herren, für mich als Sozialdemokratin gehören Freiheit und Solidarität, Gerechtigkeit und die universelle Geltung der Menschenrechte zu den Grundwerten von Politik. Darauf baue ich meine Entwicklungspolitik auf.
Und die denkt Werte und Interessen zusammen und nicht im Widerspruch. Ich denke da zum Beispiel an globale Lieferketten, in denen die Menschenrechte oft mit der Preispolitik von Unternehmen, also Einzelinteressen, konkurrieren. Es müssen also Menschen zu unwürdigen Bedingungen arbeiten, damit wir als Konsumentinnen und Konsumenten in Deutschland ein günstiges T-Shirt kaufen können. Wenn wir Interessen nur kurzfristig denken – möglichst günstige Preise – dann verkennen wir, dass dies längerfristig nicht zu stabilen Verhältnissen führen kann. Insofern fallen dann diese vorausschauend gedachten Interessen mit unseren Werten zusammen. Für das Beispiel heißt das: „Gute Arbeit“ darf nicht nur schmückendes Beiwerk der Beschaffungsstrategie von Unternehmen sein, sie muss zwingender Bestandteil von globalen Lieferketten weltweit sein. Wir sind hier konkret geworden und haben unsere Grundüberzeugungen in Handlungsoptionen übersetzt. Die Bundesregierung hat letztes Jahr das Lieferkettengesetz beschlossen. Damit haben wir ein klares Bekenntnis für Menschenrechte und faire Arbeitsbedingungen gezeigt. Aktuell machen wir uns auf europäischer Ebene stark für ein Lieferkettengesetz, damit es auch EU-weit ein sogenanntes Level Playing Field gibt und alle Unternehmen mit Sitz in Europa den gleichen Anforderungen entsprechen müssen.
Dieses Beispiel – und es gibt davon viele mehr – zeigt, warum Werte und Interessen keine Gegensätze sein müssen. Maßstab meiner Politik ist, dass Interessenspolitik wertegeleitet sein muss. Und das muss sich auch in einer neuen integrierten Sicherheitspolitik der Bundesregierung widerspiegeln.
Gerade in der heutigen Zeit ist es wichtig, sich auf Beziehungen und Zusammenhalt verlassen zu können. Politisch gesprochen, Deutschland braucht verlässliche Partner, Allianzen und Netzwerke. Eines spielt dabei eine große Rolle: Vertrauen.
Mit ihren langjährigen Partnerschaften zu Regierungen, Parlamenten, zur Wirtschaft und Zivilgesellschaft in zahlreichen Ländern bereitet die Entwicklungspolitik, bereitet das Entwicklungsministerium den Boden für neue Bündnisse und stärkt Zusammenhalt. In diesem Sinne leistet mein Ministerium einen erheblichen Beitrag zu einer klugen und vorausschauenden Geopolitik Deutschlands. Das ist schon immer wichtig und richtig, aber in der heutigen Zeit besonders.
Internationale Zusammenarbeit kann aber nur funktionieren, wenn man die unterschiedlichen Interessen offen anspricht und einen gemeinsamen Weg findet, den alle mitgehen wollen. So entsteht Vertrauen. Gerade in unserer multipolaren Welt muss Dialog und Zusammenarbeit in einzelnen Politikfeldern auch in krisengeschüttelten und unfriedlichen Zeiten möglich sein. So setzen wir der versuchten Blockbildung Putins etwas entgegen. Und wir dürfen uns auch nicht gleich abwenden, wenn unsere Partner nicht unsere Sichtweisen, Werte und Haltungen teilen. Ich sage besser: noch nicht. Wir müssen immer wieder dafür werben. Nicht besserwisserisch, sondern mit guten Argumenten, mit Empathie auch für die jeweiligen Situation, in der sich andere Länder befinden. Das Abstimmungsergebnis der Vereinten Nationen letzte Woche zeigt, dass unser Ansatz Früchte trägt. Senegal hat sich beispielsweise diesmal nicht mehr enthalten. Und auch wenn Indien sich beispielsweise erneut enthalten hat, so ist die geplante Just-Energy-Transition-Partnerschaft der richtige Weg, um Vertrauen weiter auszubauen und gleichzeitig die sozial-ökologische Transformation zu gestalten. Darüber hinaus adressiert das Entwicklungsministerium in den regelmäßig stattfindenden Regierungsverhandlungen mit unseren Partnerländern immer wieder den russischen Angriffskrieg und seine geopolitischen Folgen.
Klar ist: Vertrauen ist eine zentrale Voraussetzung für Sicherheit. Nachhaltig lässt sich Vertrauen durch stabile internationale Organisationen und Foren gewinnen. Daher setze ich mich als Entwicklungsministerin für die Stärkung der multilateralen Strukturen ein. Das bedeutet aber auch, dass wir diese reformieren müssen, damit unsere Partnerländer dort größeren Einfluss erhalten. Die großen und komplexen Krisen unserer Zeit können wir nur gemeinsam lösen.
Eine wichtige Frage, die sich dabei stellt, ist, mit welchen Ländern arbeiten wir zusammen? Die Bevölkerungen der meisten Länder weltweit wünschen sich eine starke Demokratie. Und auch in Deutschland ist die Demokratie die einzige Regierungsform, die wir uns für unser Land vorstellen wollen.
Einer der wichtigen Grundsätze meines Ministeriums ist daher, diejenigen Menschen zu schützen, die für Menschenrechte und für Demokratie kämpfen, das wird auch von uns erwartet. Nach dem „Do-no-harm“-Prinzip hat Deutschland zudem dafür Sorge zu tragen, dass deutsche Politik nirgendwo dazu beiträgt, Demokratien zu beschädigen. Und es sind Demokratien, mit denen wir am engsten zusammenarbeiten.
Es ist aber nicht realistisch, dies nur mit Demokratien zu tun. Deutschland muss auch mit Autokratien kooperieren, um globalen Herausforderungen zu begegnen. Ein gutes Beispiel ist der Klimaschutz. Die Erreichung der Klimaziele schaffen wir nur, wenn ein Großteil aller Länder mitmacht, eben auch autokratische Staaten. Das ist auch im Interesse vieler unserer Partnerländer, die auf Fortschritte bei den globalen Herausforderungen besonders angewiesen sind. Es wird also in Zukunft weiterhin darauf ankommen, mit Autokratien zu globalen Herausforderungen konstruktiv zusammenzuarbeiten. Wichtig dabei ist, Unterschiede ganz klar aufzuzeigen, entstehende Kontroversen auszutragen und die Grenzen der Zusammenarbeit deutlich zu machen.
So ist beispielsweise die konsequente Umsetzung einer feministischen Entwicklungspolitik für mich ein Meilenstein auf dem Weg zu menschlicher Sicherheit. Nur wenn Frauen eine Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilhabe haben, kann eine Gesellschaft ihr Potenzial voll ausschöpfen. Das ist ein Menschenrecht und daher fordere ich unsere Partner – egal welcher Regierungsform – damit immer wieder. Ganz aktuell richten sich unsere Augen auf den Iran. Auf die mutigen Demonstrationen der starken Frauen dort, die sich selbstbewusst durch ihren Protest die Systemfrage stellen. Wir stehen solidarisch an ihrer Seite!
Ich möchte zum Schluss kommen. Entwicklungspolitik nach der Zeitenwende ist zum einen immer auch Präventionspolitik. Sie bringt außerdem Werte und Interessen zusammen. Und ist Grundlage für die Vertrauensbildung zu Ländern und Menschen. Mit diesem Dreiklang leistet das Entwicklungsministerium einen wesentlichen Beitrag zur nationalen, integrierten Sicherheitspolitik Deutschlands, ganz im Sinne des sozialdemokratischen Grundverständnisses der Freiheit, der internationalen Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit.
Ich wünsche Ihnen zahlreiche Erkenntnisse auf dieser Veranstaltung und freue mich auf die Diskussion.