26. Juni 2018 Eine Welt ohne Hunger ist möglich
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Südsudan hungern Millionen, weil sie ihre Felder wegen der Kämpfe jahrelang nicht bestellen konnten und weil Lebensmittel extrem teuer sind. In Teilen Kenias vernichten, nach Jahren der Dürre, Überschwemmungen die Ernte. Im Niger geht derweil das Trinkwasser aus. Ganze Dörfer hungern, Vieh verendet.
Und die Weltgemeinschaft? Reagiert erst, wenn gestorben wird. Wir müssen weg vom Klingelbeutel. Wir brauchen einen VN-Krisenfonds mit zehn Milliarden Euro, die schnell verfügbar sind. – So viel wird für militärische Zwecke weltweit in zweieinhalbTagen ausgegeben!!
Nach Jahren der Besserung steigen die Hungerzahlen wieder. Heute hungern 815 Millionen Menschen aufgrund von Kriegen, Gewalt, Klimawandel. Aber auch die globalen strukturellen Gründe sind lange nicht überwunden: Armut, Unwissen, Rechtlosigkeit, Umweltzerstörung und Übernutzung der natürlichen Ressourcen, fehlende Gleichberechtigung der Frau, unfaire Handels- und Konsummuster.
Hunger bleibt der größte vermeidbare Skandal auf unserem Planeten. Die Erde kann alle Menschen ernähren. „Weiter so wie bisher“ ist dafür aber keine Option. Denn vieles ist absurd und nicht hinnehmbar: Ein Drittel der produzierten Lebensmittel landet nicht auf dem Teller, sondern in der Tonne beziehungsweise verdirbt schon vorher. In Afrika sind es mehr als 50 Prozent! Drei von vier Unterernährten leben in Ländern mit Nahrungsmittelüberschuss. Vier von fünf Hungernden leben auf dem Land. Da, wo die Nahrung wächst.
Das heißt zugleich: Die Potenziale sind da! Vor allem in Afrika gibt es noch Millionen von unproduktiv genutzten Hektar Land.
Aber auch die Herausforderungen sind groß: Bis 2050 müssen wir so viel produzieren wie seit Beginn des Ackerbaus vor zehntausend Jahren zusammengerechnet! Dabei hatten wir in meinem Geburtsjahr pro Kopf rund 4.300 Quadratmeter Boden zur Verfügung für Ernährung; heute sind es nur noch 1.800 Quadratmeter. Jährlich gehen im Schnitt weitere 10 Millionen Hektar fruchtbare Böden verloren.
Wir brauchen vier Paradigmenwechsel: Erstens eine Innovations-Revolution: mehr mit weniger produzieren; zweitens eine Job-Revolution: für Zukunft und Bleibeperspektiven auf dem Land; drittens eine Gerechtigkeits-Revolution im Handel, für Frauen, gegen Land-Grabbing und viertens eine Ernährungs-Revolution für zukunftsfähige Ernährungsmuster.
Erstens: die Innovations-Revolution.
In 2050 brauchen wir 60 Prozent mehr Erträge gegenüber 2005, um alle Menschen zu ernähren. Aber noch schafft ein Landwirt in Afrika im Schnitt nur 1,5 Tonnen Getreide pro Hektar. In Deutschland sind es bis zu 8 Tonnen!
Wir können Erträge vervielfachen. Aber nicht wie bisher mit mehr Flächen, mehr Dünger, mehr Wasser, mehr Monokultur. Denn das geht oft zulasten der Böden, der Gewässer und auch auf Kosten der Gerechtigkeit.
Der Dünger von heute heißt „Innovation“! Wir können heute mehr mit weniger machen: mit Innovationen für lokal angepasste Sorten, für bodenschonenden Anbau, für neue Bewässerungstechniken. Mit Innovationen für bessere Konservierung, Verarbeitung, Vermarktung. Mit mehr gemeinsamer Erschließung von Märkten etwa durch Genossenschaften. Und vor allem mit mehr und besserer Ausbildung!
Da setzen auch unsere 15 Innovationszentren an. In Benin haben wir eine neue Reissorte getestet. Sie bringt den doppelten Ertrag. In Ghana haben wir Solartrockner verbreitet. Weniger Reis verschimmelt, die Bauern haben mehr im Geldbeutel. Oft sind Innovationen ganz einfach: Wer Reissetzlinge einzeln und in Reihe pflanzt, spart bis zu 80 Prozent Saatgut – bei mehr Ertrag. Aber auch modernste Technologie kommt zum Einsatz: Wettervorhersagen per SMS etwa in Nigeria, oder Düngeempfehlungen per Smartphone-App.
Auch ökologische Anbaumethoden geben wichtige Impulse. Wir richten drei Agrarökologiezentren ein, zusammen mit den deutschen und internationalen Verbänden des Ökolandbaus. Wir helfen beim Aufbau einer nachhaltigen, ökologischen Land- und Ernährungswirtschaft. Wir wollen Wissen verbreiten, vernetzen, Entwicklungssprünge möglich machen!
Zweitens: Innovationen bringen aber nicht nur mehr Ertrag, sondern auch mehr Jobs aufs Land.
Dort werden sie dringend gebraucht. Afrikas Bevölkerung wird sich bis 2050 verdoppeln, auf 2,5 Milliarden Menschen. Der größte Teil von ihnen wird auf dem Land geboren werden. Über die Hälfte der jungen Afrikaner würde auch gern auf dem Land bleiben – das hat eine Umfrage anlässlich unserer G20-Konferenz zu ländlicher Entwicklung ergeben. Sie wollen aber nicht – wie ihre Eltern – ärmliche Selbstversorger-Landwirte sein. Sie wollen mit guter Ausbildung, modernen Landmaschinen und ihren Smartphones eine spannende Existenz aufbauen. Sie wollen Strom, Wasser, Schulen.
Ein wettbewerbsfähiger Agrar- und Ernährungssektor schafft 2- bis 4-mal mehr Jobs als andere Branchen. Er gibt Millionen Afrikanern in ländlichen Gebieten Beschäftigung und Einkommen und damit Bleibeperspektiven. Solche Jobs verhindern auch die Flucht in die Slums der Städte.
Darum ist die Innovations-Revolution zugleich eine Job-Revolution. Millionen könnten Arbeit haben, wenn es eine Industrie zur Verarbeitung der Produkte gäbe. Deshalb wollen wir unsere Innovationszentren ausbauen. Sie sollen Zentren ländlicher Entwicklung werden, auch für die Weiterverarbeitung.
Ein Beispiel aus Kenia: Dort unterstützen wir nicht nur die Viehproduktion, sondern auch die Verarbeitung von Milch zu Joghurt und Trinkmilch in Kleinmolkereien. In Tunesien fördern wir die Kooperation der Kleinbauern mit der größten tunesischen Molkerei vor Ort. Die Bauern bekommen feste Preise für ihre Milch. So ist der Absatz langfristig gesichert und die Bauern können investieren – in Zuchtvieh, besseres Futter, Kühltechnik.
Lokale Verarbeitung fördern heißt auch: Bauern endlich zu Globalisierungs-Gewinnern machen. Solange Kaffee, Kakao, Baumwolle nur als Rohprodukte exportiert werden, machen Kleinbauern die harte Arbeit, die Profite bleiben woanders.
Aber ob etwa ein Kakaobauer von seiner Arbeit überleben kann, liegt auch an uns. 49 Cent für eine Tafel Schokolade, nur drei Cent bei den Kakaobauern – im Kakaoforum wollen wir das ändern, gemeinsam mit dem Landwirtschaftsministerium. Die deutschen Schokoladenhersteller wollen bis 2020 70 Prozent ihres Kakaos fair beziehen. Am Ende muss das Ziel lauten: 100 Prozent Fairness, ohne bitteren Nachgeschmack.
Drittens: Eine Welt ohne Hunger muss gerechter sein.
Eine Gerechtigkeitsrevolution brauchen wir zum Beispiel in der Handelspolitik. Der Koalitionsvertrag sieht Deutschland als Vorreiter für faire Handelspolitik mit Afrika. Mit Bundesministerin Julia Klöckner zusammen setze ich mich ein für verbindliche Sozial-, Menschenrechts- und Umwelt-Standards, für entwicklungsfreundlichen Agrarhandel, für faire und transparente Handelsregeln.
Wir brauchen endlich vollständigen und freien Marktzugang für afrikanische Agrarprodukte. Noch immer behindern Zölle beispielsweise auf Olivenöl oder Tomatenmark aus Tunesien, dass mehr Produkte aus diesen Ländern in die EU eingeführt werden.
Zugleich muss Afrika den Binnenhandel auf dem eigenen Kontinent ausbauen. Gut, dass mehr als 40 afrikanische Staaten jetzt die Schaffung einer afrikanischen Freihandelszone beschlossen haben.
Es gibt noch weitere Gerechtigkeits-Lücken: Wenn Frauen gleiche Rechte hätten, würde allein durch Überwindung dieser Benachteiligung die Landwirtschaft in Entwicklungsländern um 20 bis 30 Prozent produktiver. Aber zu oft haben sie kein Recht auf Landbesitz, kaum Zugang zu Saatgut, Technik, keine Chance auf Kredite oder Ausbildung. Hunger ist weiblich: über zwei Drittel der Hungernden sind Frauen und Mädchen.
Alle Bauern brauchen sichere Landrechte. Das ist Voraussetzung für Fortschritt. Denn wer investiert, wenn ihm das Land weggenommen werden kann? Aber auch in Zeiten von Google Maps gibt es kein globales Land-Kataster. Landrechte bleiben oft intransparent. Zum Schaden der Ärmsten.
Das sogenannte „Land-Grabbing“ wird zu einem immer größeren Problem. Weltweit kauften seit dem Jahr 2000 ausländische Konzerne rund 50 Millionen Hektar Ackerflächen, vor allem in afrikanischen Ländern wie Liberia, Gabun, Sierra Leone, aber auch in Asien, etwa auf den Philippinen. Oft sind die Zielländer der Investoren arme Staaten mit schwachen Institutionen. Oft werden die Gewinne privatisiert, den Schaden tragen aber die Einheimischen: durch Vertreibung, Ausbeutung von Wasserquellen. Auch Landnutzungskonflikte werden verschärft.
Die Zukunft darf nicht in verantwortungslosen großflächigen Agrarinvestitionen liegen. Wir fordern: Keine öffentliche Förderung von Investitionen ohne Einhaltung der Standards!
Daher unterstützen wir Landrechtsexperten, etwa durch den Aufbau eines afrikanischen Exzellenzzentrums für Landpolitik. Regierungen sind vor allem in der Pflicht. Die Entwicklung der afrikanischen Landwirtschaft muss von unten kommen, über Genossenschaften, Maschinenringe et cetera.
Viertens: Wir brauchen eine Ernährungsrevolution.
Denn auch hier gilt: „Weiter so“ geht nicht. Global hat sich der Fleischkonsum seit 1980 verdoppelt. Die Mittelschichten wachsen und damit wächst auch die Nachfrage nach tierischen Produkten – mit gravierenden Folgen.
Denn Fleisch frisst Land. Bereits jetzt wird ungefähr ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche für die Produktion von Tierfutter genutzt. Allein um das in der EU verzehrte Fleisch zu erzeugen, braucht es eine Fläche wie England. Viehzucht nimmt fast 80 Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche ein, produziert aber weniger als 20 Prozent des weltweiten Kalorienangebots. Wir brauchen eine bessere Balance in den globalen Nahrungskreisläufen. Nicht nur aus entwicklungspolitischer Sicht plädiere ich für eine bodengebundene Tierhaltung in Deutschland, die vorwiegend auf eigener Futtergrundlage wirtschaftet.
Ernährung 2.0 braucht völlig neue Lösungen. Weltweit bekommen zwei Milliarden Menschen genug Kalorien, aber zu wenig Nährstoffe. Zugleich haben 600 Millionen Übergewicht, weil sie zu wenig über gute Ernährung wissen oder kein gutes Essen kaufen können; weil Nahrungsmittelkonzerne zunehmend billige und inhaltslose Lebensmittel verkaufen.
Darum müssen wir überall die Ernährungs-Innovationen von morgen entwickeln und fördern. Algen etwa: Sie sind proteinreich und vitaminreicher als die meisten unserer Nutzpflanzen vom Acker. Dabei sind sie nachhaltig, weil sie ohne zusätzliche Landwirtschaftsflächen wachsen.
Ein anderes Beispiel sind Insekten: Für rund zwei Milliarden Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika schon heute ein wichtiges Nahrungsmittel. Bei der Grünen Woche gab es Heuschrecke und Mehlwurm! Insekten sind Super-Food. Sie haben viele ungesättigte Fettsäuren, Vitamine und Mineralstoffe.
EINEWELT ohne Hunger ist möglich – wenn wir alle dazu beitragen. In unserer Sonderinitiative machen über 100 Partner mit: die Wissenschaft mit modernen neuen Methoden und Erkenntnissen, die Zivilgesellschaft, die Kirchen, die Verbände, die bei unserer Sonderinitiative in hunderten Projekten herausragende Arbeit leisten, und schließlich die Wirtschaft, die ich ermuntere, noch mehr angepasste Lösungen für Afrika und für Millionen von Kleinbauern weltweit zu schaffen!
Eine Welt ohne Hunger ist möglich. Mit einer modernen Landwirtschaft, die natürliche Ressourcen schützt, mit Jobs für mehr Wertschöpfung vor Ort und Bauern mit mehr Kaufkraft, mit fairen Marktchancen und fairen Lieferketten, mit zukunftsfähigen Ernährungsmustern.
Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir müssen nur endlich umsetzen!